60 Jahre Bundesliga
Ein Aufsteiger als Meister, die Dreipunkteregel, Leistungszentren, das Bosman-Urteil – in ihrer vierten Dekade verändert sich viel rund um die Bundesliga. Was bleibt: Dramatik auf und neben dem Platz. Die Bundesliga-Spielzeiten 1993/94 bis 2002/03.
Text: Ottmar Hitzfeld
Es ist sehr interessant, wie viele Details aus dem hier behandelten Bundesliga-Zeitraum bei der Vorbereitung eines solchen Gastkommentars wieder vor Augen geführt werden. Ganz große Ereignisse sind selbstverständlich im Gedächtnis. Manche Einzelheiten kommen aber erst beim Nachlesen zurück in die Erinnerung. Präsent sind vor allem die persönlichen Erlebnisse seit meinem 1991 erfolgten Schritt aus der Schweiz vom Grasshopper-Club Zürich in die Bundesliga zu Borussia Dortmund.
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Nach 32 Jahren Warten 1995 wieder Deutscher Meister zu werden, war für Stadt und Region, die nach erfolgreichem Fußball lechzten, eine Befreiung, ebenso wichtig war die Titelverteidigung im Folgejahr. Auf dem Weg dorthin hatten wir uns kontinuierlich verstärkt, zum Beispiel – alle von italienischen Clubs – Stefan Reuter, Karl-Heinz Riedle, Matthias Sammer, Andreas Möller und Jürgen Kohler in die Bundesliga zurückgeholt. Mit Matthias Sammer gab es durchaus mal verschiedene Meinungen, was aber besser sein kann als ständige Harmonie. Vor allem aber war er ein Leader und Weltklasse, was auch beim Europameisterschaftsgewinn 1996 in England deutlich wurde.
Für Borussia Dortmund kam es mit dem Gewinn der UEFA Champions League 1997 noch besser. Dabei hatte uns der sportliche Rivale aus dem Ruhrpott, der FC Schalke 04, durch seinen UEFA-Cup-Erfolg gegen Inter Mailand nur eine Woche vor unserem 3:1-Sieg gegen Juventus Turin ganz schön unter Druck gesetzt. Dass ich ein Jahr später am Finalort München Trainer des FC Bayern würde, war da noch nicht absehbar. Auch hier blieb es spannend und erfolgreich. Nach der bitteren Last-Minute-Niederlage im Champions-League-Finale 1999 gegen Manchester United gelang der verpasste Erfolg schließlich 2001 gegen den FC Valencia.
Ganz wichtig für das Selbstbewusstsein war der Gewinn der Deutschen Meisterschaft nur vier Tage zuvor, es war die dritte in Folge. In einem unglaublichen Finale, in dem Patrik Andersson das 1:1 in der Nachspielzeit erzielte. Unfassbar! Wann geht ein solcher Freistoß schon mal durch eine Mauer aus elf Spielern auf der Torlinie? Die Tränen auf Schalke, wo zu früh schon der vermeintliche Titel gefeiert wurde, waren ebenso nachvollziehbar wie ein Jahr zuvor die Enttäuschung bei Bayer 04 Leverkusen, das zum Saisonfinale mit einer Niederlage bei der SpVgg Unterhaching Platz eins verpasst hatte, sodass wir die Deutsche Meisterschaft bejubeln durften.
Eine der größten Sensationen der Bundesliga feierte 1998 der 1. FC Kaiserslautern! Er war zwei Jahre zuvor erstmals abgestiegen und direkt zurückgekehrt, nun gelang Einmaliges: Deutscher Meister als Aufsteiger! Trainer Otto Rehhagel hat die Mannschaft streng geführt und sehr gut dirigiert. Er konnte Menschen für noch so hohe Ziele motivieren. Zur starken Achse gehörten Libero Miroslav Kadlec, Ciriaco Sforza im Mittelfeld und Torjäger Olaf Marschall. Weltmeister Andreas Brehme gelang ein würdiges Karriereende, Michael Ballack stand am Anfang seiner großen Laufbahn.
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Entspannter als andere Saisonabschlüsse war für uns beim FC Bayern als schon feststehendem Deutschen Meister der 34. Spieltag 1998/99. Turbulent verlief hingegen der Kampf um den Klassenerhalt zwischen dem VfB Stuttgart, Sport-Club Freiburg, F.C. Hansa Rostock, Eintracht Frankfurt und dem 1. FC Nürnberg. Fast minütlich wechselte die Tabellenkonstellation. Bis kurz vor Schluss in Frankfurt Jan-Aage Fjörtoft sein legendäres Übersteigertor zum 5:1 gegen den 1. FC Kaiserslautern erzielte, Rostock sich durch ein 3:2 beim VfL Bochum rettete, Stuttgart durch ein 1:0 gegen den SV Werder Bremen, während Nürnberg nach einem 1:2 gegen Freiburg absteigen musste: bei gleicher Punktzahl und Tordifferenz wie Frankfurt wegen vier weniger erzielter Treffer im Vergleich zur Eintracht. Ein absoluter Krimi!
Fünf Jahre vorher war Nürnberg beim FC Bayern vom „Phantomtor“ betroffen. Kaum zu glauben – das war am Fernseher gleich mein erster Eindruck. Denn Thomas Helmer setzte den Ball ja deutlich erkennbar neben das Tor. Hätte es schon den VAR gegeben… Zur Saison 1995/96 wurde neben festen Rückennummern für alle Spieler die Dreipunkteregel eingeführt, die meines Erachtens einen positiven Effekt brachte. Schon bald wurde verinnerlicht, dass sich mit drei Zählern für einen Sieg statt zuvor nur zweien ein Rückstand in der Tabelle schneller aufholen ließ, mehrere Unentschieden waren weniger hilfreich.
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Was blieb noch haften aus dieser Zeit – ohne Anspruch auf Vollständigkeit? In sportlicher Hinsicht: Dass "Jay-Jay" Okocha in der Anfangsphase der Saison 1993/94 für Eintracht Frankfurt gegen den Karlsruher SC mit Oliver Kahn ein sensationelles Solo mit Torabschluss zeigte. Und dass zwei weitere Topstars in die Bundesliga zurückkamen, beide zu Bayer 04 Leverkusen. Bernd Schuster aus Spanien, mit seiner Technik und Übersicht einer der besten Mittelfeldspieler, die Deutschland hatte. Und Rudi Völler, nach seinem Engagement in Italien über Frankreich, ein Torjäger auf Topniveau und Sympathieträger.
Mit Lothar Matthäus hingegen verließ eine Legende die Bundesliga in Richtung USA zu den New York/New Jersey MetroStars. 1992 zum FC Bayern zurückgekehrt, konnte er mit 39 Jahren – von mir als Libero vor der Abwehr eingesetzt, heute ein "Sechser" – das Spiel noch immer lesen. Für mich als Trainer ein Glücksfall, dass ich mit Lothar habe zusammenarbeiten dürfen.
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Und "politisch": Vom Bosman-Urteil wurden 1995 zunächst negative Folgen für den Fußball befürchtet. Im Nachhinein betrachtet hat der Europäische Gerichtshof meines Erachtens richtig entschieden, nicht nur ablösefreie Transfers bei Vertragsende betreffend, sondern auch die bis dahin stark eingeschränkte Freizügigkeit bei der Verpflichtung ausländischer Spieler.
Ebenfalls positive Auswirkungen hatten die 2001 als Folge der missglückten deutschen Auftritte bei der WM 1998 und der EURO 2000 obligatorischen Leistungszentren der Proficlubs zur besseren Nachwuchsförderung. Maßgeblich beteiligt waren der Ende 2000 gegründete Ligaverband und die seit Mitte 2001 operativ tätige DFL, mit denen die überfällige Eigenständigkeit des Profifußballs umgesetzt wurde.
Ebenfalls 2001 setzte Giovane Elber ein starkes Zeichen! Nach den Anschlägen in New York vom 11. September bildete er nach seinem Tor für den FC Bayern gegen den Sport-Club Freiburg mit beiden Händen symbolisch eine Friedenstaube – eine intuitive Geste, die genau passte zum großen Herzen von Giovane. Diese Botschaft in die Welt zu senden, war eine wirklich besondere Szene dieser Bundesliga-Zeit.
Der Autor: Ottmar Hitzfeld (74) ist mit sieben Deutschen Meisterschaften nach Udo Lattek (8) erfolgreichster Trainer der Bundesliga- Geschichte. Mit Borussia Dortmund holte er 1995 und 1996 den nationalen Titel, als Coach des FC Bayern München feierte er diesen Erfolg fünf Mal (1999, 2000, 2001, 2003, 2008). Außerdem gewann er mit beiden Clubs die UEFA Champions League (1997, 2001). Hitzfeld ist Ehrenpreisträger der DFL.