Bundesliga
Wie es Florian Wirtz von Bayer 04 Leverkusen schafft, die Bundesliga und die ganze Fußballwelt zu begeistern.
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Am 26. November 2015 erhielt Julian Draxler eine unerwartete Nachricht auf seinem Handy. Draxler war 2014 mit der deutschen Nationalmannschaft Weltmeister geworden, und nun, ein Jahr später, schrieb ihm sein ehemaliger Jugendtrainer Marc Dommer: "Ich habe hier einen Jungen, der könnte dir Konkurrenz machen." Dieser Junge war zwölf.
Dommers Nachricht war spaßig gemeint, und gleichzeitig war sie ernst. Zum Beweis hatte der Jugendtrainer ein Video an Draxler mitgeschickt. Darauf ist ein Junge mit Streichholzbeinen zu sehen, die Fußballsocken bis über die Knie gezogen. Er jongliert einen Tennisball mit dem Fuß, mit dem Knie, mit dem Kopf. Rechter Fuß, rechtes Knie, Kopf, linkes Knie, linker Fuß, und wieder rechts …
Dommer, der seit über 25 Jahren im Spitzenbereich des deutschen Jugendfußballs arbeitet, zunächst beim FC Schalke 04, dann beim 1. FC Köln und heute als Leiter des Leistungszentrums beim SV Werder Bremen, hatte diese Geschicklichkeitsübung mit unzähligen Talenten trainiert. Den Rekord hielt Julian Draxler mit sechs Runden, Fuß, Knie, Kopf. Kaum hatte Dommer dem Zwölfjährigen von dem Rekord erzählt, schaffte dieser sieben Runden.
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Irgendwann, in jedem Gespräch über Florian Wirtz, kommen die Trainer und Mitspieler, die ihn in den Nachwuchsmannschaften des 1. FC Köln wachsen sahen, auf die Sache mit dem Fahrrad zu sprechen. "Du bist mit dem Rad da?!", habe er gestaunt, erinnert sich etwa Simon Breuer, der in Köln zehn Jahre an Florians Seite spielte. Von der Wohnung der Familie Wirtz in Brauweiler zum Trainingszentrum am Geißbockheim waren es 13 Kilometer. "Und während des Trainings konnte ich mich schon auf die Rückfahrt freuen", sagt Florian Wirtz mit gespieltem Sarkasmus. "Zirka 45 Minuten waren es mit dem Rad."
Er sei über die Jahre durchaus viel öfter mit dem Auto gebracht worden, schränkt Florian Wirtz ein, mit dem Fahrrad habe er die 13 Kilometer zum Training hauptsächlich in den Kinderjahren und dann vor allem in den Sommerferien zurückgelegt. Und doch sagt die Episode sehr viel über seine Kindheit. "Meine Eltern sind mit uns Kindern gern überall mit dem Fahrrad hingefahren."
Benedikt Hammans, der Florian in den Kinderteams des 1. FC Köln drei Jahre trainierte, kennt ein Wort, um die Eltern zu beschreiben: "Die Wirtzens waren eine Draußen-Familie." Der Vater Hans ist bis heute Vorsitzender, Schiedsrichter und Kindertrainer beim Fußballverein im Dorf, SV Grün-Weiß Brauweiler, er nahm Florian und dessen Schwester Juliane einfach immer mit auf den Fußballplatz, und dann spielten sie, ganze Nachmittage. Die Mutter Karin Groß sah Jugendtrainer Hammans eines Wintertages vor dem Training in Köln ungezwungen mitten unter den Kinderfußballern - voll dabei bei einer Schneeballschlacht. Als Sporttrainer fiel Hammans auch gleich auf: "Frau Groß hat die Schneebälle ganz schön fest rausgefeuert." Weil Florians Vater auch Lehrer war, gab es zu Hause keinen Fernseher und ein Handy erst mit zwölf. "Ich konnte also gar nichts anderes tun, als draußen zu sein und mich zu bewegen", sagt Florian. "Ich bin sehr froh darüber."
Als er mit sieben Jahren ins Leistungszentrum des 1. FC Köln kam, stach er sofort heraus. "Aber das war eben keine gottgegebene Sache", sagt Trainer Hammans im Einklang mit Matthew -Syeds These von den prägenden Lebensumständen: "Das war auch das Resultat einer, um es mal sportwissenschaftlich auszudrücken, frühkindlichen Fußballerziehung. Florian hatte immer einen Ball am Fuß, und zwar nicht, weil es da einen Plan gab, unser Sohn muss Fußballprofi werden, sondern auf natürliche Art: Der Vater ist im Fußballverein engagiert, und so wird der dörfliche Rasenplatz zur Welt des Jungen."
Die unprätentiöse Art der Familie wird die Mitarbeiter des 1. FC Köln während Florians zehn Jahren im Leistungszentrum noch einige Male angenehm verblüffen. Jugendtrainer wie Hammans und Dommer sind es gewohnt, dass Eltern besorgt anrufen, weil ihr Sohn im letzten Spiel die Rückennummer 9 statt der geliebten 10 tragen musste. Florian Wirtz’ Mutter kam - selbstverständlich auch mit dem Fahrrad - gelegentlich beim Individualtraining ihres Sohnes mit Marc Dommer am Abtei-Gymnasium vorbei, brachte Florian ein Pausenbrot und erzählte Dommer eines Mittags, heute sei ein Paket von einer Spielerberatungsagentur für Florian eingetroffen. Praktisch alle herausragenden Fußballtalente haben mit 14, 15 bereits einen Berater. Es würde also wieder eine Agentur mit einem Geschenk um Florian geworben haben, dachte sich Marc Dommer. "Und, was war drin im Paket?", fragte er die Mutter. Das wisse sie doch nicht, habe Karin Groß geantwortet. Sie hatte das Paket ungeöffnet zurückgeschickt. Ihr Sohn brauchte, zumindest bis er erwachsen sei, keinen Berater, fanden Vater und Mutter. "Das Elternhaus war, was die Erziehung angeht genauso wie den Fußball, mit Sicherheit die wichtigste Prägung für Florian", sagt Jugendtrainer Hammans.
Wie sehr das sportliche Familienleben prägte, sieht man daran, dass Florian nicht der erste Fußballprofi im Haus ist. Seine Schwester Juliane spielt heute für den SV Werder Bremen in der Frauen-Bundesliga. In den Medien ist regelmäßig zu lesen, Florian Wirtz habe neun Geschwister, was grundsätzlich auch stimmt. Allerdings wird dabei das falsche Bild transportiert, er habe da fast eine komplette Fußballelf an Geschwistern in der Wohnung gehabt. Tatsächlich lebte er, "außer in der ersten Zeit nach meiner Geburt", nur mit Juliane und den Eltern zusammen. Die anderen acht stammen aus früheren Beziehungen der Eltern.
Nach den Spielen der Kölner Kindermannschaft am Samstag luden Wirtzens für den Rest des Wochenendes manchmal einen Mitspieler wie Simon Breuer zu sich ein. Dann wurde weiter Fußball gespielt und Fußball geschaut, mangels Fernseher zu Hause im Vereinsheim von Grün-Weiß. Wobei der Vater die Erziehung ganz ohne Fernseher nicht vollends einhielt. "Zu Welt- oder Europameisterschaften schleppte er ein Fernsehgerät an, das er irgendwo geliehen hatte", sagt Florian Wirtz.
Wie viel Fußball Florian noch neben dem Leistungstraining spielte, erfuhren seine Jugendtrainer beim 1. FC Köln eines Tages aus der Lokalzeitung. Dort las Benedikt Hammans, die Elfjährigen von Grün-Weiß Brauweiler hätten ein Hallenturnier in Aachen gewonnen - und auf dem Foto der Siegermannschaft erkannte er die drei besten Spieler aus der U11 des 1. FC Köln, Florian Wirtz, Mehmet Ibrahimi sowie Simon Breuer im Brauweiler-Trikot. "Da hat der Hans Wirtz einfach mal gesagt: Kommt, spielt mal bei mir mit." Die Spielerpässe wurden in dem Alter normalerweise sowieso nicht kontrolliert. Das sei heute "hoffentlich verjährt, dafür kann Brauweiler nicht mehr bestraft werden, oder?", sagt Florian Wirtz und lacht. Es war beim 1. FC Köln ein offenes Geheimnis, dass Florian an den trainingsfreien Tagen in Brauweiler mittrainierte. Aber die Kölner sagten nichts. Und da sind wir beim nächsten Faktor, der Florian Wirtz’ Karriere beförderte und der nichts mit Talent und harter Arbeit zu tun hat. Er traf durchweg auf Trainer, die ihn mit systematischem Training an die Leistungsgrenze brachten, ihn aber nie durch starres Beharren auf Regeln oder taktische Konzepte einengten.
Jugendtrainer Hammans begründet das mit einem bemerkenswerten Satz: "Der Florian wusste schon früh besser als ich, welche Entscheidungen er im Spiel treffen sollte." Sehr wohl wurde Wirtz von Hammans und seinen Kollegen in den tausend Details des hohen Spiels geschult, Schulterblick vor der Ballannahme und so weiter. Und doch hatte Florian Wirtz das Glück, dass bis heute wirklich alle seine Trainer daran glaubten, dass Entfaltung für ihn so wichtig wie Anleitung ist. "Meine Trainer haben mir immer die Freiheit gelassen, im Spiel die Position nach meiner eigenen Interpretation zu wechseln. Das rechne ich ihnen hoch an. Mir ist keiner im Kopf geblieben, der mir vorschreiben wollte, wo ich zu stehen hätte oder dass ich nicht so viel dribbeln sollte." Heute hat Florian Wirtz mit Xabi Alonso bei Bayer 04 Leverkusen und mit Julian Nagelsmann in der Nationalelf zwei Weltklassetrainer, die für ihre taktischen Kniffe berühmt sind. Natürlich erhält er von ihnen klare Anweisungen, wie er sich in die Mannschaftstaktik einbringen soll; aber am Ende lassen sie ihm genauso viel Freiheit wie damals mit zehn Jahren, sich beim Angriff eigene Wege zu suchen. Denn es ist eine seiner großen Stärken.
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"Ich bin viel unterwegs, vom linken Flügel zum rechten oder in die Mitte, um die guten Räume zu finden." Die guten Räume sind die kleinen Lücken. Findet sich keine, macht Florian Wirtz eben absichtlich das Schwierigste. Er stellt sich dann in die massierte gegnerische Defensive. 53 Mal pro Bundesliga-Spiel wird er im Durchschnitt hart gepresst und kreiert aus diesen unmöglichen Situationen trotzdem pro Partie 2,2 Torschussvorlagen; mehr als jeder andere Bundesliga-Spieler. Mit seiner feinen Balltechnik und schnellen Auffassungsgabe kann er sich aus der Enge befreien. Sein Spiel sieht dann draufgängerisch aus, ist aber eher strategisch. 56 Prozent seiner Dribblings startet er zum Beispiel vom linken Flügel, weil er dort mit seinem starken rechten Fuß größere Chancen hat, nach innen zu ziehen. Florian Wirtz schießt bemerkenswert viele Tore (48 in seinen ersten 169 Profispielen für Leverkusen), kreiert ebenso viele Torvorlagen, 51 in jenen 169 Spielen (Stand: 9. November 2024), ist defensiv sehr aktiv, sprintet schnell und gehört auch noch zu den fünf laufstärksten Bundesliga-Profis. Sein Jugendmitspieler Simon Breuer, der heute in der U23 des FC Schalke 04 spielt, fasst es in der Sprache der jungen Leute zusammen: "Florian Wirtz ist ein Zocker mit Pferdelunge."
Und trotz dieses beinahe einmaligen fußballerischen Könnens stellen seine Trainer bei Florian Wirtz eine andere Fähigkeit an erste Stelle. Man nennt es wohl mentale Kraft: eine extreme Konzentrationsfähigkeit gepaart mit fulminantem Willen. In dem Moment, in dem ihm Dommer sagte, Julian Draxlers Tennisballrekord stehe bei sechs Runden, mal schauen, ob er das überbiete, "hätte neben ihm ein Autounfall passieren können. Florian wäre auf die Übung fokussiert geblieben." Gelegentlich wurde diese Willenskraft auch zu vehement für Florian Wirtz’ eigenes Wohl. Dommer erinnert sich an ein Jugendturnier, bei dem er ein, zwei Spieler auswechselte, und aus einem 1:0 für Florians Kölner Team wurde ein 1:1. "Warum haben Sie ausgewechselt?", habe Florian Wirtz gefaucht. "Der hat gekocht, der hat mich nicht mehr angeschaut", ein Elfjähriger, der den Trainer mit Verachtung straft.
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An dieser extremen Willenskraft, glaubt Benedikt Hammans, müsse es liegen, dass Florian Wirtz "immer besser wird, je schwieriger es wird". Mit 17 setzte er sich nach seinem Wechsel von Köln zu Leverkusen sofort in der Bundesliga durch, und bei seinem ersten Spiel in der UEFA Champions League im September 2024 in Rotterdam "habe ich bei der Hymne vor Anpfiff so ein bisschen mitgewippt, da hat es richtig gekribbelt", wo andere nervös werden. Und dann schoss Florian Wirtz zwei prächtige Tore. "Ich würde ja gern mal von einem Bayer-Profi hören, ob Florian dort mit seinem Wettkampfwillen auch die Trainingsintensität hochtreibt", sagt Jugendtrainer Hammans. Dann hören wir doch einmal. Granit Xhaka, ein Anführer der Leverkusener Meisterelf, sagt: "Wenn man ihn täglich erlebt, weiß man, warum der Junge so gut ist. Riesenprofi, Supermentalität - Chapeau!"
Gottgegebenes Talent oder alles erarbeitet, das war die Frage. Mit seinem speziellen Talent, permanent höchst fokussiert zu arbeiten, bringt Florian Wirtz seine Begabungen zum Leuchten, lautet die halbe Antwort. Die andere Hälfte der Wahrheit ist: Es waren die Lebensumstände; eine Kindheit, in der er unaufhörlich Fußball unter kompetenter Anleitung und mit viel Freiheit spielte. So wurde Florian Wirtz der Fußballer, auf den alle schauen. Und gleichzeitig ist er noch ein 21-jähriger Junge, der sich das Erwachsenenleben gerade erst erschließt. Deswegen machen wir jetzt mit dem Interview Schluss. Denn Florian Wirtz muss noch mit seinem Hund zum Tierarzt.
Von Ronald Reng
Der Autor
Ronald Reng schrieb die preisgekrönte Biografie von Robert Enke. 2013 erschien sein Buch "Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga". 2015 folgte "Mroskos Talente", 2019 "Miro" und 2021 "Der große Traum. Drei Jungs wollen in die Bundesliga". Sein aktuelles Werk: "1974. Eine deutsche Begegnung" über das WM-Spiel zwischen der Bundesrepublik und der damaligen DDR vor 50 Jahren. Für BUNDESLIGA trifft er regelmäßig Persönlichkeiten aus dem Profifußball.