Bundesliga

2024-12-19T14:40:00Z

Wirtz bringt den Maestro zurück auf die Zehn

Werkself-Zauberer Florian Wirtz in der Taktik-Analyse
Werkself-Zauberer Florian Wirtz in der Taktik-Analyse

Die echten Zehner sind ausgestorben? Nicht mehr! Florian Wirtz bringt die Renaissance des Maestro auf der "Zehn". Der Superstar von Bayer 04 Leverkusen glänzt wie die Größten seiner Rolle. Florian Wirtz in der Taktik-Analyse.

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Früher war es die wichtigste Position im Fußball: die Nummer Zehn. Der zentrale offensive Mittelfeldspieler war Spielmacher, erster Anlaufpunkt im Offensivspiel und hat nicht selten über Sieg oder Niederlage entschieden. Doch Spieler wie Diego Maradona, Johan Cruyff oder in Deutschland auch Günter Netzer oder Mesut Özil wurden immer seltener.

Die defensivere Ausrichtung des Fußballs hat die Räume vor der Abwehrkette enger gemacht - und spieldominante Spieler dazu gezwungen, ihr Spiel zu verändern und sich andere Positionen zu suchen, in denen sie glänzen können. Während ein Özil, als traditioneller Zehner wohl einer der besten seiner Generation, in den neuen Rollen scheiterte, explodierten Spieler wie Toni Kroos oder Kevin De Bruyne in tieferer Position, während etwa Lionel Messi oder in jüngeren Jahren auch Leroy Sané wieder auf den Flügel ausgewichen sind und dort ihre Magie versprühten.

Doch Florian Wirtz interessiert das alles nicht. Er bringt den Maestro, den spielbestimmenden Meister der Offensive, zurück auf die Zehner-Position im zentralen offensiven Mittelfeld.

Wirtz zieht das Pressing von drei Gegnern auf sich und spielt einen perfekten Pass zum 4-gegen-2 seiner Mitspieler

Die Renaissance des Maestro

Denn der 21-jährige Superstar meistert die engen Räume wie kein anderer. Anders als die letzte Generation Spielgestalter, die sich aus dem hohen Druck zwischen den Ketten entfernte, um ihre magischen Momente zu kreieren, sucht Florian Wirtz genau diese Räume. Denn der Leverkusener beherrscht das Spiel unter Druck perfekt.

423-mal wurde Wirtz von seinen Gegnern gepresst - das sind über 100 Drucksituationen mehr als der Zweite in der Bundesliga (Michael Olise, 314). Dabei bleibt er mit einer Siegquote von 62 Prozent trotzdem so erfolgreich, dass er immer wieder Bälle in die gefährlichen Zonen des Spiels verlagern kann.

Am liebsten wird Wirtz in ganz engen Räumen angespielt, zieht dann gleich drei oder auch mal vier Gegner auf sich, nur um dann gekonnt aus dem Druck herauszuspielen, wo seine Mitspieler eine Überzahlsituation erhalten. Entweder direkt per Traumpass in die Tiefe - und zurück in Situationen, in denen Mitspieler dann mit Aktionen in den Strafraum glänzen können. Florian Wirtz ist ein Bessermacher - auch wenn er dabei selbst nicht die Statistiken einsammelt.

Wirtz bekommt von St. Pauli zu viel Raum und ist im Eins-gegen-Eins nicht mehr zu halten

Mit Platz zwischen den Ketten nicht zu stoppen

Doch wenn Wirtz möchte, dass seine Gegner ihn mit mehreren Spielern attackieren, warum bleiben sie dann nicht einfach weg und schicken nur einen Verteidiger ins Duell? Ganz einfach: Weil Wirtz alleine und ohne Druck überhaupt nicht mehr zu stoppen ist.

Schafft es der Youngster, zwischen Abwehr- und Mittelfeldkette aufzudrehen, ist die Aktion quasi schon gewonnen. Kein Spieler hat in dieser Spielzeit so viele gewonnene Dribblings gesammelt wie Wirtz - dabei gewinnt er starke 61 Prozent seiner offensiven Eins-gegen-Eins-Situationen. Oder anders ausgedrückt: Läuft Wirtz frei auf einen Verteidiger, kommt in mehr als jeder zweiten Situation Wirtz frei vor das Tor.

Das musste zuletzt auch St. Pauli wieder feststellen - Wirtz entwischte im Rücken der Doppelsechs, die Innenverteidigung stand zu breit und der 21-Jährige konnte im Eins-gegen-Eins-Duell mit Eric Smith in den Strafraum gehen, nahm ihn aus und versenkte schon in der 6. Minute zur 1:0-Führung.

Kein Wunder also, dass Wirtz mit sechs Bundesligatoren der geteilte Toptorjäger der Werkself in dieser Spielzeit ist (Victor Boniface ebenfalls sechs). Zusammen mit seinen überragenden fünf Champions-League-Treffern kommt der Maestro sogar auf starke elf Saisontore - mehr als jeder andere Leverkusener.

Wirtz spielt einen perfekten Steilpass an fünf Gegnern vorbei in den Lauf von Schick, der frei das Tor erzielen kann

Wirtz als der moderne Maestro

Doch nicht immer sind die Wege durchs Zentrum gut zu bespielen - besonders in eng gestaffelten Verteidigungen gibt es Situationen, in denen Wirtz einfach komplett abgeschirmt wird und gar nicht erst anspielbar ist. Dann entstehen zwar schon aus Prinzip Räume für andere, doch das reicht ihm nicht. Ist im Zentrum nichts zu holen, sucht Wirtz sich Räume, in denen er helfen kann - vor allem auf den Flügeln. Auch dort spielt er herausragend, weshalb er etwa bei der Nationalmannschaft auch als linker Flügelspieler agiert.

Kombinationsspiel, Dribblings und das Auge für die perfekten Pässe machen Wirtz auch aus der Tiefe oder vom Flügel zu einer Wunderwaffe. Bietet man dem Youngster eine noch so kleine Passlinie hinter die Kette an, wird er sie nutzen und seine Mitspieler so in Abschlusssituationen schicken. 

Und so ist es auch kein Wunder, dass Wirtz neben den eigenen Abschlüssen auch mit einer Menge Torvorlagen glänzt. Vier Bundesliga-Assists (nur Granit Xhaka hat einen mehr) machen ihn zum alleinigen Topscorer der Werkself. Insgesamt war er an 72 Torschüssen beteiligt - 40-mal zog er selbst ab, 32-mal legte er einem Mitspieler auf. Das ist der zweitbeste Wert der gesamten Bundesliga.

Wirtz zieht den Unioner Defensivfokus auf seine Seite und flankt perfekt in den Lauf von Schick

Neue Talente: Flanken-Gott Wirtz

Doch die Entwicklung von Florian Wirtz ist mit 21 Jahren noch längst nicht vollendet - er lernt immer weiter und fügt seinem Spiel immer neue Elemente hinzu. Gegner passen sich auf seine Spielweise an und der Youngster findet neue Lösungen, um sie zu überwinden.

29 Flanken hat Wirtz an den ersten 14 Bundesliga-Spieltagen schon geschlagen - in der gesamten Spielzeit 2023/24 waren es nur deren 28. Dabei ist er nicht nur aktiver geworden, er ist mittlerweile auch herausragend gut: Vier seiner Flanken führten in dieser Spielzeit direkt zu einem Tor seiner Mannschaft, das ist Bundesliga-Bestwert.

Ein perfektes Beispiel dafür gab es am 12. Spieltag. Wirtz startete gegen Union Berlin auf der Bank, doch sein Team hatte Schwierigkeiten mit der eng gestaffelten Verteidigung und so kam er in der 58. Minute aufs Feld - und brauchte nicht lange, um dem Spiel seinen Stempel aufzudrücken. In der 71. Minute war es dann so weit: Gleich sechs Unioner verteidigen Wirtz' Flügel, obwohl dort nur zwei weitere Leverkusener stehen. Im Sturm ganz alleine: Patrik Schick. Wirtz verschaffte sich über eine Passkombination Platz und flankte den Ball perfekt in den Lauf von Schick, der mit der Brust nur noch eindrücken musste - 2:1 für die Werkself, der spätere Endstand.

Alle Elemente in Kombination ergeben Florian Wirtz

Doch der Youngster kann noch viel mehr. Er ist clever im Gegenpressing, liest das Spiel besonders gut und kann Bälle abfangen. Er kann mit Tempoläufen auf die Flügel oder in die Tiefe das Spielfeld groß machen, um so Räume für seine Mitspieler zu generieren, oder lange Bälle anzunehmen. Er arbeitet viel. Es gibt eigentlich nichts, was gar nicht in Wirtz' Repertoire vorhanden ist.

Vor allem die Kombination von Ideenreichtum, technischer Finesse und dem perfekten Momentum der Umsetzung sorgt für den herausragenden Florian Wirtz, der bei Bayer 04 Leverkusen derzeit zu sehen ist.

Und genau so entstehen dann Traumkombinationen in Spitzenspielen wie etwa gegen den Vorjahres-Vizemeister Stuttgart, als Wirtz aus dem nichts eine Riesenchance kreierte - obwohl die Spielsituation nicht einmal Ansatzweise danach aussah, als könnte gleich ein Tor fallen. Seht selbst:

Aus einer ruhigen Situation auf dem Flügel öffnet Wirtz das Spiel durch einen schnellen Doppelpass mit Robert Andrich, sprintet sofort zwischen die Ketten. Dort bekommt er den Ball zurück, zieht die Aufmerksamkeit von insgesamt fünf Stuttgartern auf sich. Dadurch entstehen zentral drei Eins-gegen-Eins-Situationen.

Bei der hinteren erkennt Wirtz schon frühzeitig durch sein Spielverständnis, dass sein Teamkollege Jeremie Frimpong das Laufduell gewinnen wird und flankt perfekt auf den Kopf des Sprinters - der die Spitzenchance dann allerdings vergibt.

Es hätte mal wieder eines dieser engen Top-Spiele sein können, das durch eine geniale Reihe von Wirtzschen Elementen entschieden wird. Und genau das macht Wirtz so herausragend: Er kann alles - und entscheidet sich im richtigen Moment sehr oft für die perfekte Lösung. Ein wahrer Maestro eben.

Niklas Staiger

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