2. Bundesliga
Die Fußballwelt trauert um Franz Beckenbauer. Der "Kaiser" ist im Alter von 78 Jahren verstorben. bundesliga.de blickt zurück auf seine außergewöhnliche Karriere.
Gedankenverloren spaziert Franz Beckenbauer am 8. Juli 1990 über den Rasen im Olympiastadion von Rom. Nur wenige Meter entfernt feiert seine Mannschaft nach dem Finalsieg gegen Argentinien ausgelassen den WM-Titel und lässt ihrer Euphorie freien Lauf. Es sind Bilder, die um die Welt gehen. Was ihm in diesem Moment durch den Kopf ging? Beckenbauer hat es nie verraten. Vielleicht hat er an den weiten Weg gedacht, der ihn bis zu diesem Triumph in der ewigen Stadt geführt und aus dem Sohn einer Arbeiterfamilie aus München-Giesing den weltberühmten Kaiser gemacht hat.
Manchmal wirkt eine glückliche Fügung zunächst wie eine Ohrfeige. Aber nicht immer ist so eine Ohrfeige nur metaphorischer Natur. 1958 verpasste ein Jugendspieler von 1860 München einem Gegenspieler während einer Partie einen Schlag. Dieser entschied sich dann gegen den eigentlich bereits ausgemachten Wechsel zu den Löwen und ging vom SC 1906 München lieber zum FC Bayern. Der 13-Jährige, der aus einer Mischung aus Trotz und gekränktem Stolz diesen Entschluss fasste, hieß Franz Beckenbauer. Diese berüchtigte "Watschn" ist ohne Zweifel die folgenreichste Tätlichkeit in der Fußballgeschichte.
Wie die Karriere des Franz Beckenbauer verlaufen wäre, wenn er 1959 wie geplant bei 1860 angefangen hätte, weiß niemand. Ob die Kräfteverhältnisse der beiden Münchner Clubs heute ähnlich eindeutig wären? Mit solchen Gedankenspielen hat sich der wahrscheinlich beste deutsche Fußballer der Geschichte nie aufgehalten.
"Es war einfach Schicksal, dass wir beide aneinander geraten sind und ich ein Roter wurde und kein Blauer", erklärte Beckenbauer später im Bayrischen Rundfunk, der ein Treffen mit seinem ehemaligen Widersacher organisiert hatte, und fügte an: "So, wie sich die Dinge anschließend entwickelt haben, muss ich dem König ja fast dankbar sein, dass er mir eine geschmiert hat." Gerhard König hieß der Junge, der Beckenbauers Weg zu den Bayern damals geebnet hat. Nach dem Schlag von König dauerte es noch etwas mehr als zehn Jahre, bis die Welt Beckenbauer als Kaiser kennen lernte.
Nachdem der FC Bayern 1964 mit dem 18-jährigen Beckenbauer in der Aufstiegsrunde zur Bundesliga an Borussia Neunkirchen scheiterte, machten es die Münchner im folgenden Jahr besser und schafften den Sprung in die Erstklassigkeit. Beckenbauer war dabei schon in jungen Jahren ein enorm wichtiger Faktor und übernahm viel Verantwortung. So trat er auch zum ersten Bayern-Elfmeter der Bundesliga-Geschichte an, verschoss, schnappte sich auch beim zweiten Strafstoß den Ball und verwandelte.
1966 gewann er mit den Münchnern den DFB-Pokal und damit seinen ersten Titel im Clubfußball. Bei der folgenden Weltmeisterschaft in England war er die große Entdeckung im deutschen Team und wurde nachträglich zum besten Nachwuchsspieler des Turniers gewählt. Damals agierte der feine Techniker noch im defensiven Mittelfeld, interpretierte die Rolle aber äußerst offensiv. Vier seiner insgesamt fünf Treffer bei einer WM erzielte er gleich bei seiner ersten Teilnahme. Zum Titel langte es auch wegen des legendären Wembleytores nicht.
Ende der sechziger Jahre verfestigte sich dann der Spitzname "Kaiser". Weil sein Zusammenspiel mit Gerd Müller, dem Bomber der Nation, so perfekt war, betitelte ihn die Bild-Zeitung im Juni 1969 als "Kaiser der Nation". Wenige Tage später maß er sich im Pokalfinale mit Schalkes Stan Libuda, dem König von Westfalen. König und "Kaiser" gerieten in einem Zweikampf aneinander und Beckenbauer hielt Libuda in aussichtsreicher Position einfach an der Hose fest. Fortan wurde er bei jeder Ballberührung von den Schalker Fans mit einem gellenden Pfeifkonzert bedacht.
Als Antwort darauf nahm Beckenbauer einen Abwurf von Sepp Maier am eigenen Strafraum an und jonglierte den Ball einige Zeit gekonnt mit beiden Füßen, bevor er ihn butterweich mit dem rechten Spann herunternahm. Wohlgemerkt: Das alles passierte während des laufenden Spiels. Auf dem Feld glänzte er mit leichtfüßiger Eleganz, aber in ihm steckte ein enorm ehrgeiziger und manchmal auch dickköpfiger Spieler. Das Finale gewannen die Bayern übrigens mit 2:1 und die Presse schrieb anschließend unisono vom "Kaiser" Franz aus Bayern.
Es war eine von zahlreichen Trophäen, die er mit den Münchnern sammelte. Zwischen 1966 und 1977 wurde er mit den Münchnern jeweils vier Mal Deutscher Meister und Pokalsieger, gewann drei Mal den Europapokal der Landesmeister sowie je ein Mal den Europapokal der Pokalsieger und den Weltpokal. Mit ihm als Kapitän wurde die westdeutsche Nationalmannschaft 1972 Europa- und 1974 Weltmeister.
Und doch ist es eine Niederlage, die der Fußballwelt ganz besonders in Erinnerung geblieben ist, weil sie einen ganz anderen Spieler und Menschen zeigte, als den strahlenden Sieger, den die Öffentlichkeit gewohnt war. Im "Jahrhundertspiel" bei der WM 1970 verletzte sich Beckenbauer schwer an der Schulter, aber das Wechselkontingent war bereits erschöpft. Dick bandagiert und den rechten Arm vor der Brust fixiert spielte der Münchner unter offensichtlichen Schmerzen weiter.
"Einer der größten Spieler dieser WM wurde bei jedem Schritt umjubelt", schrieb der Evening Standard nach der 3:4-Niederlage gegen Italien in der Hitze von Mexiko City. Beckenbauer war nun endgültig ein Weltstar. Hinterher hieß es, dieses Spiel hätte nur Gewinner gehabt, aber davon wollte der ehrgeizige Beckenbauer nichts wissen. Stattdessen haderte er: "Mei, haben wir Chancen gehabt, der Held, der Overath und unsere beiden Dicken da vorn." Mit den beiden Dicken meinte er Gerd Müller und Uwe Seeler.
Mit 32 Jahren wagte er das nächste große Abenteuer und wechselte zu Cosmos New York, wo er unter anderem mit Pele zusammenspielte. Das Starensemble holte drei Mal den Titel und spielte regelmäßig vor über 70.000 Zuschauern. Dennoch wurde er nur selten auf der Straße erkannt. Wahrscheinlich auch deshalb bezeichnete er die Zeit in den USA später einmal als die schönste in seinem Leben.
Der Ex-Herthaner Karl-Heinz Granitza, der Ende der siebziger Jahre ebenfalls nach Amerika wechselte, befand vor einigen Jahren gegenüber bundesliga.de: "In Amerika ist Franz Beckenbauer vom Weltstar zum Weltmann geworden." Und dieser Weltmann hatte mit dem Kapitel Bundesliga noch nicht endgültig abgeschlossen. 1980 ging es von einer Hafenstadt in die nächste, aber beim Hamburger SV konnte er auch aufgrund von Verletzungen nicht mehr an seine alte Form anknüpfen.
Der Erfolg blieb trotzdem an seiner Seite, denn zum Abschied 1982 holte der "Kaiser" zum fünften Mal die Meisterschale. Allerdings kam er in der Saison nur zehn Mal zum Einsatz. Anschließend ging es noch einmal zurück nach New York, bevor der "Kaiser" endgültig vom aktiven Fußball abdankte. Kurze Zeit später übernahm er dann als Teamchef die deutsche Nationalmannschaft.
In dieser Aufgabe bewies er, dass auch ein extrem akribischer Arbeiter in ihm steckte. Klaus Augenthaler erinnerte sich gegenüber 11Freunde an dreistündige Videositzungen bei der WM in Mexiko, um das Team auf den nächsten Gegner einzustimmen. Das stieß beim Team nicht nur auf Gegenliebe.
Beckenbauer wäre aber nicht Beckenbauer, wenn er daraus nicht die richtigen Schlüsse gezogen hätte. Bei der WM 1990 verschlankte er das Programm und ließ den Spielern eine deutlich längere Leine. Er selbst zog sich aber stundenlang auf sein Zimmer zurück und studierte Videos.
"Er wusste alles über den Gegner, weil er sich auch die Zeit genommen hat. Er war ein harter Arbeiter", lobte Lothar Matthäus, der Beckenbauers Kapitän und verlängerter Arm auf dem Spielfeld war. Der Teamchef drückte schon einmal ein Auge zu, wenn die Spieler nach dem Essen am Tisch eine Zigarette ansteckten oder nachts etwas länger wegblieben.
Wenn die Leistung auf dem Feld aber nicht stimmte, konnte der Teamchef auch sehr ungemütlich werden. Nach dem schwachen Viertelfinale gegen Tschechien flogen zahlreiche Gegenstände durch die Kabine. "Wie ein Wirbelwind ist er auf jeden los. Ich habe zugesehen, so schnell wie möglich aus den Klamotten und ab ins Entmüdungsbecken zu kommen. Aber selbst da kam er hinterher und wütete", beschrieb Augenthaler die Situation nach dem Abpfiff.
Während des Spiels, das Deutschland durch ein Elfmetertor gegen später dezimierte Tschechen mit 1:0 gewann, behalf sich Beckenbauer mit Galgenhumor. "Willst spielen? Komm, ich wechsel dich ein!", soll Beckenbauer damals zu einem Balljungen gesagt haben. "Der war ja ein Italiener. Der hat mich natürlich nicht verstanden. Aber ich hätte den damals gebracht", schilderte er später selbst die Situation.
Vor dem Finale war Beckenbauer auch längst wieder mit seiner Mannschaft versöhnt. "Geht's raus, habt’s Spaß, spielt’s Fußball", gab er seinem Team vor dem Marsch aus der Kabine mit auf den Weg. Seine Mannschaft hielt sich an die Anweisung und gewann ein überlegen geführtes Endspiel gegen Argentinien mit 1:0. Und so einzigartig Franz Beckenbauer war, so einzigartig genoss er auch diesen Triumph. "Es war die beste Zeit, die ich im Fußball erlebt habe", urteilte Beckenbauer, der als einer von bislang drei Menschen sowohl als Spieler als auch als Trainer Weltmeister wurde, im Rückblick über die WM 1990.
Der Triumph von Rom war das letzte Spiel von Franz Beckenbauer als Teamchef der deutschen Nationalmannschaft. Der Kaiser trat nach dem Spiel zurück. Seinen Abschied vom Fußball bedeutete das aber noch lange nicht. In der Saison 1990/91 übernahm er Olympique Marseille und wurde französischer Meister. Zudem war er nur ein verlorenes Elfmeterschießen gegen Roter Stern Belgrad davon entfernt, auch den Europapokal der Landesmeister als Spieler und Trainer zu gewinnen.
1994 rief dann sein Herzensclub, der FC Bayern München. Nach 20 Spieltagen der Saison 1993/94 wurde Erich Ribbeck beurlaubt und Beckenbauer übernahm bis zum Saisonende den Trainerposten. Wie es sich für einen Kaiser gehört, führte er die Münchner mit neun Siegen, zwei Unentschieden und drei Niederlagen noch von Platz drei zum Meistertitel. Nach fünf Erfolgen als Spieler konnte Beckenbauer die Meisterschale nun auch als Trainer in die Höhe recken.
Legendär war anschließend aber vor allem der Auftritt im Aktuellen Sportstudio: Lothar Matthäus platzierte Beckenbauer den Ball beim Torwandschießen auf einem vollen Weizenbierglas. Den Kaiser irritierte das aber nicht und er traf gefühlvoll mit der rechten Innenseite ins untere Torwandloch. "Dem Mann glückt alles", rief Moderator Dieter Kürten anschließend bewundernd aus - und diese Einschätzung beschreibt die Karriere des Kaisers tatsächlich sehr gut.
1994 übernahm er auch das Präsidentenamt beim FC Bayern und blieb bis 2009 der oberste Repräsentant des erfolgreichsten deutschen Clubs. Kurz vor Ende der Saison 1995/96 half er noch ein letztes Mal für den entlassenen Otto Rehhagel auf der Trainerbank aus. Den Meistertitel konnte er an den letzten drei Spieltagen nicht mehr erringen, aber dafür holte er mit den Münchnern ganz souverän den UEFA-Cup. In beiden Partien wurde Girondins Bordeaux mit zwei Toren Unterschied geschlagen.
Geglückt ist ihm auch seine Aufgabe als Leiter des Organisationskomitees für die Weltmeisterschaft 2006, die er zunächst nach Deutschland holte und dann mit dazu beitrug, dass das Turnier zu einem weltweit begeistert aufgenommenen Fußballfest wurde. Nicht zuletzt, weil in Deutschland in diesem Sommer vier Wochen lang Kaiserwetter herrschte.
2009 zog er sich als Bayern-Präsident zurück, wurde aber gleichzeitig zum Ehrenpräsident der Münchner ernannt. Als TV-Experte beim Pay-TV-Sender Sky oder als Zeitungskolumnist bereicherte er mit seinen pointierten Aussagen und seinem unverwechselbaren Humor aber weiterhin die Medienlandschaft. Erst 2016 zog er sich aus Altersgründen deutlich mehr zurück. Zuletzt wurde Beckenbauer im Rahmen eines großen Fan-Votings in die Top-11 aus 60 Jahren Bundesliga gewählt.
Es war eine fantastische Zeit mit dem "Kaiser" und es sind diese Bilder, die für immer bleiben werden: Der junge Franz Beckenbauer mit der Meisterschale, der Kämpfer mit der bandagierten Schulter in der Gluthitze von Mexiko City, der endlich vollendete bei der Heim-WM 1974, der gelöste Weltstar an der Seite von Pele bei Cosmos New York, der gedankenverlorene Teamchef beim Gang durchs nächtliche Olympiastadion, der übermütige Meistertrainer, der vom Weizenglas in die Torwand trifft.
Der Sport hat eine seiner herausragenden Persönlichkeiten verloren und eines ist klar: Es wird keinen zweiten "Kaiser" im Weltfußball geben. Dieser Titel ist für immer mit Franz Beckenbauer verbunden.