60 Jahre Bundesliga
Anfang der achtziger Jahre galt Jimmy Hartwig als einer der besten Mittelfeldspieler Deutschlands. Heute spielt der dreifache Deutscher Meister auf den großen Theaterbühnen des Landes. Ein Interview über Bertolt Brecht, Günter Netzer, Rassismus und den ewigen Kampf mit sich selbst.
In der Serie "Nachspielzeit" sprechen Bundesliga-Legenden jeden Freitag über ihr Leben nach dem Fußball.
Jimmy Hartwig, Ihre Karriere als Film- und Theaterschauspieler dauert nun schon länger an als die Profifußballer-Laufbahn. Wer hat Sie für die Bühne entdeckt?
Jimmy Hartwig: Die ersten Kontakte zum Fernsehen hatte ich über Rudi Carell, aber die Arbeit am Theater begann per Zufall. Anfang des Jahrtausends saß ich im legendären Restaurant "Ciao Ciao" unweit der Berliner "Schaubühne" und gab ein Interview. Auf einmal kam der große Schauspieler Thomas Thieme an unseren Tisch und sprach mich an. Er sei zwar Ossi, aber großer Fan vom Hamburger SV. Ein halbes Jahr später rief er mich an.
Um über den HSV zu sprechen?
Nein, er wollte wissen, ob ich mir vorstellen könne den Brecht am Theater zu spielen.
"Auch wenn ihm die Ausbildung eines Schauspielers fehlt, entwickelt er doch auf der Bühne eine unbändige Kraft und Ausstrahlung"
Ihre Antwort?
Ich fragte ihn: "Wo hat der denn gespielt?" (Lacht.) Im Ernst, ich musste mein Wissen über die deutsche Hochkultur erstmal auffrischen und kaufte mir einen Stapel Reclam-Heftchen.
2002 gaben Sie schließlich Ihr Debüt auf der Bühne am Deutschen Nationaltheater Weimar.
Ich war der "Kaufmann Mäch" in Brechts "Baal". Ben Becker hatte die Hauptrolle, Thomas Thieme führte Regie. Drei Jahre später war ich der "Herzog Suffolk" in Thiemes "Margaretha. Eddy. Dirty Rich".
Es folgten u.a. die Hauptrollen in "Woyzeck" am "Centraltheater Leipzig" und als tragische Figur "Uwe" in Albert Ostermaiers "Spiel ohne Ball" im "Grand théâtre de la ville de Luxembourg". Ostermaier hat über Sie gesagt: "Er legt in alles eine unglaublich große Seele, zeigt Empfindsamkeit und Verletzlichkeit. Auch wenn ihm die Ausbildung eines Schauspielers fehlt, entwickelt er doch auf der Bühne eine unbändige Kraft und Ausstrahlung." Wie haben Sie es geschafft, ein so guter Schauspieler zu werden?
Ich hatte mit Thomas Thieme – für mich der beste deutsche Schauspieler – einen hervorragenden Lehrer. Er hat mich mit den kleinen Feinheiten vertraut gemacht. Ähnlich wie ein Fußballtrainer, der dir beibringt, einen sauberen Doppelpass zu spielen. Zum Beispiel: Nicht hinter den Kollegen spielen, nicht zu schnell sprechen – und sich bewusst sein, dass die Zuschauer erst dann den Saal verlassen, wenn das Stück beendet ist und du deine Arbeit erledigt hast.
Was fasziniert Sie an dieser Arbeit?
Ich bin ein Mensch, der ständig neue Ideen hat und die dann auch entwickeln möchte. Die Zeit als Fußballer, die Meisterschaften, der Europapokalsieg, die Länderspiele – das ist für mich alles schon Millionen Jahre weit weg. Filme und Theater, das ist es wofür mein Herz seit Jahren brennt. Und gleichzeitig brodeln schon die nächsten Projekte in meinem Kopf. Ich weiß, Podcast macht gerade jeder, aber ich stelle mir ein Format ohne Studio und ohne Drehbuch vor, einfach auf die Straße gehen und die Menschen zu Wort kommen lassen. Mal sehen, was daraus wird.
"Mein Freund Franz Beckenbauer hätte für Theater Talent gehabt"
Mit welchen ehemaligen Fußballern oder Trainern hätten Sie gerne mal auf der Theaterbühne gestanden?
Mit meinem Freund Franz Beckenbauer, der hätte dafür vermutlich auch Talent gehabt. Oder Günter Netzer. Für den großen Ernst Happel hätte ich sogar die perfekte Rolle: Als Dorfrichter "Adam" in Heinrich Kleists "Der zerbrochne Krug." "Adam“ ist wie einst König Ödipus gezwungen, über eine Tat zu richten, die er selbst begangen hat. Was für eine Vorstellung…
Als Fußballer für TSV 1860 München und den Hamburger SV galten Sie als beinharter Antreiber im Mittelfeld. Mussten Sie als Leistungssportler auch eine Rolle spielen?
Musste ich nicht, aber habe ich. Als uneheliches Kind mit dunkler Hautfarbe war ich schon von Kindheit an dem alltäglichen Rassismus ausgesetzt. Mich hat man schon abgelehnt, da war ich nicht mal geboren. Der Vater meiner Mutter war ein schlimmer Nazi, der hat seiner Tochter vor meiner Geburt angedroht: "Wenn der Buuwe zur Welt kommt, drücke ich ihm das Kissen aufs Gesicht!“
"20.000 Bayern-Fans haben mich rassistisch beleidigt"
Später als Fußballer wurde es nicht besser, sondern schlimmer. Ich galt als der Schwarze, der wenig Hirn, aber viele Muskeln hatte. Der lieber rennen sollte, statt zu reden. Trotzdem habe ich dauernd mein Maul aufgerissen. Heute weiß ich, dass das damals meine Art war, mich nicht unterkriegen zu lassen.
Einmal stand ich vor 20.000 Bayern-Fans, die mich mit rassistischen Gesängen beleidigt haben. Wenn man so was erleben muss, geht man entweder kaputt – oder du entwickelt eine Stärke, die einen dazu motiviert, es eines Tages all den Idioten zu zeigen.
Heute spielen Sie nur noch eine Rolle auf der Bühne?
Richtig. Und es verschafft mir Genugtuung, wenn die Kollegen oder Zuschauer meine Leistung als Schauspieler anerkennen und mir entsprechendes Feedback geben. Der kleine dumme Fußballer Hartwig spielt jetzt am Theater – wer hätte das für möglich gehalten?
Was haben Fußball und Theater gemeinsam?
Oh, sehr viel sogar. Das Stadion und die Bühne. Die Mannschaft und das Ensemble. Der Trainer und der Regisseur. Der Spielmacher und der Hauptdarsteller. Und wenn jeder seine Leistung abliefert, dann sind die Zuschauer auch gut unterhalten. Dann schreit die Kurve deinen Namen, dann muss man sich fünfmal vor dem Publikum verbeugen, weil die Menschen immer noch klatschen.
"Wenn man keinen vernünftigen Plan für die Zeit nach dem letzten Spiel hat, dann ist man am Arsch"
Ihr letztes Bundesligaspiel liegt 37 Jahre zurück. Und anders als die meisten Ex-Profis bekommen Sie immer noch Beifall. Ist das vielleicht der wahre Grund, warum Sie Schauspieler geworden sind?
Wissen Sie, neulich war ich mit Thomas Müller golfen. Da haben wir natürlich auch über seinen Abschied bei den Bayern gesprochen. Was man wirklich vermisst, wenn die Karriere mal vorbei ist, sind die Spieltage. Der letzte gemeinsame Kaffee im Hotel. Die Fahrt zum Stadion. Die Massagen und Bandagen. Und dann, Samstag um halb vier, raus aufs Spielfeld und vor 50.000 Menschen Fußball spielen. Diese Gefühle bekommt man nie wieder.
Und wenn man keinen vernünftigen Plan für die Zeit nach dem letzten Spiel hat, dann ist man am Arsch. Ich bin selbst ein tiefes Loch gefallen, weil ich dachte, dass die Schulterklopfer und der Heldenstatus auch dann noch anhalten, wenn ich nur noch der Ex-Fußballer bin. Das ist aber nicht der Fall. Ich bin oft auf die Klappe gefallen in meinem Leben, aber glücklicherweise immer wieder aufgestanden. Und darauf kommt es an.
Das Theater und der Film haben mir ein ganz neues Selbstbewusstsein gegeben. Früher galt ich als Hohlkopf, aber man kann Shakesspeare oder Heinrich Heine nicht spielen, wenn man nichts in der Birne hat. Neulich habe ich meinen alten Kumpel Kloppo wiedergesehen. Da begrüßte er mich mit den Worten: "Oh, der Herr Schauspieler!" So definieren mich die Leute heute: als Schauspieler, nicht mehr als Fußballer. Das macht mich stolz.
Sportler und Schauspieler brauchen den Jubel. Womit kann man Ihnen das schönste Kompliment machen?
Wenn mir jemand, der mich schon als Fußballer kannte und jetzt als Schauspieler wahrnimmt, sagt: "Sie sind einfach immer Mensch geblieben."
"Die Felsenbühne fühlte sich an wie das Bernabeu"
Zum Abschluss: Was ist schöner – Standing Ovations nach dem Schlussakt im Theater oder vor 70.000 ein Tor gegen die Bayern schießen?
Puh, das ist beides grandios. Vor ein paar Jahren habe ich Kaiser Joseph II. in "Amadeus" gespielt. Nach einer Aufführung bei den Luisenburg-Festspielen in Wunsiedel mussten wir zehnmal auf auf die Bühne kommen, der Applaus dauerte sage und schreibe eine Viertelstunde. Das war zwar nur die Felsenbühne, doch in diesem Momente fühlte sich das an wie das Bernabeu.
Interview: Alex Raack
In der "Nachspielzeit" sind bisher erschienen:
Markus Babbel: "Ich will in Wacken auflegen"
Frank Rost: "Wir haben einen Hengst 'Van der Vaart' genannt"
Uli Borowka: "Werde mein Leben lang gegen die Sucht kämpfen"